Person

Dietmar Haiduk

Dietmar Haiduk

Eventmanagement, Autor, Texter

Die 4. Dimension

Was für ein Leben, was für eine Zeit. Wir gewöhnen uns daran, virtuell zu sein. Wir suchen nach Nähe in einer Dimension, die es nicht wirklich gibt. Jene vierte Dimension scheint eine Dimension der Voraus-Ahnung, des Voraus-Lebens zu sein. Wir antizipieren Hoffnungen, wir füllen jenen engen Raum um uns herum mit Projektionen über das, was wir wünschen – allein schon froh über ein simples Flirren der Luft, das diese bewirken könnten: Endlich bewegt sich etwas in uns, mit uns, um uns herum. Fasziniert sind wir allein von einer schemenhaften Ahnung dessen, was noch sein könnte: Leben leben zu können, wie nie gelebt.

Manchmal treffen wir auf jenem Feldzug über – ja, sicher – unsichtbare, in jedem Fall aber unzählbar virtuelle Linien auf Menschen, die uns innehalten lassen. Konsterniert verharren wir, weil es sie wirklich zu geben scheint: Menschen aus Fleisch und Blut und also mit Sinn hinter hastig dahin geschriebenen Worten, mit Mut, Trauer, Schmerz. Vielleicht mit zerbrechlichen Beziehungen und nie für möglich gehaltenen Sehnsüchten, mit einem Hang zu eigentlich als vergänglich erachteten Beweisen von Liebe: verliebt – verlobt – verheiratet. Aber in jedem Fall staunen wir: Was für ein Wesen ist jener virtuelle Freund – neu, fremd, ungeahnt und hunderte Kilometer entfernt lebend? Mit fast zu Boden drückender Präsenz und mit bisher nicht für möglich gehaltenen, weil am eigenen Ego kratzenden Worten …

Konsterniert merken wir sehr schnell:  Wir brauchen genau dies. Denn wir suchen nicht nur nach dem, was uns bestätigt, wir suchen immer auch nach dem, was uns in Frage stellt: nach jenem, das einfach nur bezweifelt, was uns selbst seit jeher als unzweifelhaft erschien. Wir brauchen nicht wirklich die millionenfache Konturenlosigkeit eines Netzes. Wir brauchen Wahrhaftigkeit.

Also sind wir froh, denn wir haben gefunden, was uns in unserem dreidimensionalen Leben bisher unmöglich schien. Wir haben einen Freund gefunden, der einen braucht, der da ist, wenn man ihn braucht. Der sich meldet auf einen Klick hin. Vor allem: einen Freund, der kritisiert, ohne zu zögern. Das einzig Verwerfliche bleibt: Anonym kommt diese Kritik, schriftlich zwar, auch bildhaft. Nie aber wirklich. Nie hörbar. Nie im Moment der Wahrnehmung widersprechbar. Nie einen wirklichen Diskurs ermöglichend, immer nur Rechtfertigung. Nie mehr, als nachgereichte Erklärungen: Nein, so war es nie gemeint! Nein, so habe ich es nicht gewollt! Nein, so sollte es nie verstanden werden!  Rechtfertigungen also, die einen selbst immer nur in den Erklärungsnotstand zwingen. Spätestens jetzt bleibt die erhoffte Wirklichkeit scheinbar, virtuell und will als solche begriffen werden.

Dies endlich annehmend, fügen wir uns irgendwann: Es gibt keinen Weg. Die 4. Dimension bleibt jenseits einer dritten. Was wir erleiden, erleiden allein wir. Hier und jetzt. Dessen Stimme wir nicht hören, dessen Körper wir nicht riechen, dessen Flackern der Augen wir nicht sehen, dessen erhabenes “in-sich-selbst-seien” wir nicht spüren, ist nicht wahrhaftig.

Wir anerkennen, dass es Grenzen gibt. Wir sind austauschbar, wegklickbar. Wir sind nichts als 4. Dimension. Aber wir hoffen, wir träumen und wir sehnen uns weiter nach jenem – einen – Freund. Unsere ewige Voraus-Ahnung: Wir könnten Freunde werden. Mit uns und der Welt. Vor allem aber, miteinander.

(Dietmar Haiduk)

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